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Kurs ‚Darstellendes Spiel‘ der ASS thematisiert Identitätsprobleme mit Bühnenstück Upgrade
„Waldemar aktiviert. Aktueller Zeitpunkt: 6:59 Uhr. Aufwecken in 10 Sekunden …….. .AUFSTEHEN! AUFSTEHEN! AUFSTEHEN!“ Was ist das denn für ein infernalischer Lärm? Und wer ist Waldemar? Hat sich meine sprachgesteuerte, internetbasierte Assistentin Alexa etwa einer Persönlichkeitsveränderung unterzogen?
Wer sich aufgeschreckt am Donnerstag oder Freitag genau diese Fragen stellte, der sei halbwegs beruhigt: Nein, Alexa ist es nicht, das traute eigene Heim ebenfalls nicht, 6:59 Uhr schon gar nicht. Stattdessen befinden wir uns im Theaterraum im Gebäude Nordertorstriftweg der Albert-Schweitzer-Schule, es ist 20 Uhr und Waldemar ist Bestandteil des Theaterstückes >Upgrade<, das just zu dem Zeitpunkt am 7.6. und 8.6. vom Kurs ‚Darstellendes Spiel‘ (Leitung: Andreas Busch) aufgeführt wird.
Warum nur halbwegs beruhigt? Weil die Sache mit der Persönlichkeitsveränderung so falsch gar nicht ist! In dem Stück, das die Akteure des 11. Jahrgangs erst seit März konzipiert und erarbeitet hatten, geht es um Wünsche, die allen Menschen vertraut sind und ganz speziell Jugendliche umtreibt: Wäre ich doch nur anders! Wäre ich doch nicht so, wie ich bin! Könnte ich mich doch nur in eine andere Person verwandeln!
Im Stück ist es Patrick (leise-introvertiert im Ton, laut-expressiv in bedrückt-depressiver Gestik und Gebärde: Laurence Tielsch), den diese Gedanken umtreiben. Und Patrick hat ein Problem: Er kommt mit seiner Art nicht an. Sein einziger Freund ist eben Waldemar, der virtuelle Assistent (ungemein roboterhaft und durch seine Penetranz komisch: Timm Kleipsties). Und der ist nicht gerade einfühlsam, wie wir schon eingangs erfahren haben. Patrick hat keine richtigen Freunde, wird von den Mitmenschen abgelehnt, am Arbeitsplatz von seiner Chefin, Frau Finster (mal beängstigend dominant, mal katzenhaft schmeichlerisch: Alicia Engels) und den Kollegen gemobbt (wer solche im wahren Leben hat, braucht keine Feinde mehr: Pia Oehlerking, Luca Jensen, Muriel Hoffmeyer, Mariam Salim, Nele Hasselbusch). Sein größtes Problem aber: Er liebt Nora – Nora ihn aber nicht. Da kann er noch so freundlich sein, sie weist ihn zurück (glaubwürdig schnippisch, hochnäsig und unsensibel gespielt von Jana-Marie Reh). Und selbst, wenn er den coolen Spruch des Frauenschwarms der Nachbarschaft (unwiderstehlich charmant wie hip-oberflächlich: Milan Boran) abkupfert – „Hey, ich habe meine Telefonnummer vergessen. Kann ich deine haben?“ – so heißt es für ihn bei Nora: Kein Anschluss unter dieser Nummer. Auf einmal geschieht jedoch, was sich wohl jeder in der Situation schon einmal gewünscht hat: Ein schräger Typ im Hawaiihemd mit fragwürdigem Gepäck und zweifelhaftem Auftreten (unterhaltsam überdreht: Jan Schimansky) bietet Patrick ein magisches Pillchen an, mit dem er sich in eine andere Person verwandeln kann. Noch einigen Pannen – er wacht anderntags als üppig-bestückte Frau auf – wird über Nacht aus Patrick PÄTRICK, der eine frappierende Ähnlichkeit mit dem Nachbarschafts-Gigolo hat und auch dessen starke Körperbehaarung aufweist (verschmitzt gespielt wieder von Milan Boran). Von nun an ist PÄTRICK beliebt, wird am Arbeitsplatz über den grünen Klee gelobt – und Nora, ja, Nora bittet ihn zu einem Spaziergang Hand-in-Hand durch den Park.
Eingefügt in diesen von den Schülern selbst entwickelten Handlungsstrang sind immer wieder Szenen des Kinderbuchs >Die Wilden Strolche< von David Melling. Auf allgemeinerer Ebene wird darin Patricks Problematik aufgezeigt: Auch hier wollen sich ungeliebte Figuren, diesmal Wölfe, ändern, damit die anderen sie endlich akzeptieren. Ganz entgegen ihrer Natur lernen sie Manieren, zivilisieren sich selbst – und müssen dann feststellen, dass solchermaßen unnatürliche Wölfe von den anderen Tieren ebenfalls abgelehnt werden.
Den Akteuren des Kurses Darstellendes Spiel gelingt es, ein flottes, unterhaltsames Stück aufzuführen. Dabei bedienen sie sich sogar Elementen des Theaters der Grausamkeit von Antoine Artaud. So thematisieren sie im Stile Artauds Massenängste, heben dramaturgisch die Trennung von Bühne und Zuschauerraum ein Stück weit auf, wenn sich Wölfe mitten unter den Zuschauern zusammenrotten und diese direkt auf Tischmanieren ansprechen, wenn sich Patrick zur Arbeit begibt und bedrückt durch die Reihen der Zuschauer schleicht oder wenn sich mal wieder Waldemar meldet, der die Gehörgänge des Publikums mit seinen Megaphonansagen malträtiert und zugleich für den Rhythmus des auf mehrere Tage verteilten Geschehens sorgt. Im Sinne des Theaters der Grausamkeit sind alle diese Elemente von beabsichtigter großer Direktheit. Für eine Eigenkonzeption der Schüler – ihr Lehrer Andreas Busch hatte lediglich als Vorlage >Die wilden Strolche< verlangt – ist dies eine beachtliche Leistung.
Weniger überzeugend sind einzelne Elemente. Zusätzlich kommentiert wird das Geschehen nämlich von Musikzitaten – Rihannas >Under my Umbrella< betont das Verlangen nach Nähe, Avril Lavignes >Nobody’s home< die Einsamkeit Patricks. Was anfangs witzig und flott wirkt, verliert aber später seinen Charme, da die Musikeinspielungen zu inkonsequent sind, als dass das Publikum durch diese zusätzliche Bedeutungsebene ein eigenes Miterleben und Miterfahren der Problemlage Patricks vollziehen könnte. Die Geschichte Patricks trifft zudem nicht ganz die Wolfsvorlage aus >Die wilden Strolche<: Wo in dieser die Persönlichkeitsveränderung der Wölfe ein bewusster Willensakt ist, hilft Patrick mal eben schnell eine Wunderpille, um in eine andere Haut zu schlüpfen. Das ist hip und provoziert Lacher, erscheint aber nicht 100% stimmig. Dennoch: Die Geschichte um Patricks Leiden an seiner Persönlichkeit ist wahrlich höchst kurzweilig und mit Aufwand inszeniert, es gibt sogar eine das Geschehen einordnende Erzählerfigur (souverän: Xelat Gürses), eigentlich ein Element des erzählenden Theaters. Immer wieder wird der Zuschauer Zeuge origineller Einfälle. So erfährt das Publikum, dass Patrick auch als PÄTRICK nicht glücklich wird, da die übertriebene Bewunderung seitens seiner Mitmenschen nicht seinem wahren Ich gilt. Veranschaulicht wird dies, als PÄTRICK am Arbeitsplatz für seinen neuesten Text gelobt wird – der allerdings gerade gar nicht zu entziffern ist, da das Notebook zugeklappt ist. Sternstunden der Aufführung in einem Stück, das für Patrick alias PÄTRICK so düster endet, wie es beginnt: Auf dunkler Bühne, in sich zusammengesunken, letztlich allein.