Von ungewohnten Freiheiten, Namenstücken und Tonnen Schokolade

Austauschschülerin Helena aus Salvador, Brasilien besucht für ein Schuljahr die Albert-Schweitzer-Schule/ Ein Interview über Eindrücke, Erfahrungen, Eigentümlichkeiten

Es ist die vierte Unterrichtsstunde an diesem Tag für die Klasse 10b. Eine Klassenleiterstunde steht auf dem Programm. Thema: Abschlussfahrt und Abschluss-T-Shirt nach dann sechs gemeinsamen Schuljahren, die die Schülerinnen und Schüler der 10b zusammen absolviert haben. Unter diesen Schülern ist auch Helena Carreira. Die aber ist ganz neu in der Klasse und hat gerade erst ihren spannenden, ereignisreichen Anfang in Deutschland und in dieser Klasse hinter sich. Ihre Heimat ist nämlich Brasilien, Deutschland ihre neue Heimat für ein Austauschschuljahr. In einem Interview berichtet sie über Brasilien, ihre Erfahrungen hier in Deutschland und an der für ihre Austauschprogramme und ihr Fremdsprachenprofil bekannten Albert-Schweitzer-Schule, über ihre Hoffnungen und Wünsche.

Könntest Du Dich kurz vorstellen?

Gerne. Ich bin Helena Carreira, 15 Jahre alt und komme aus Brasilien.

Du kommst also von weit her, von einem anderen Kontinent. Kannst Du uns ein wenig über Deine Heimat erzählen?

Es ist sehr anders dort. Ich wohne in Salvador (etwa 1650 Straßenkilometer nördlich von Rio, Anm. d. Redaktion). Die Stadt ist sehr groß, etwa 3 Millionen Einwohner. Sie liegt an der Küste, am Atlantischen Ozean. Ich wohne ca. 10 Autominuten vom Strand.

Was siehst du, wenn du aus dem Fenster guckst?

Von dort kann ich eine Straße mit alten Häusern sehen. Aber dazwischen ist ein Zaun. Ich wohne in einer ‚gated community‘. Umgeben ist dieser Wohnkomplex nämlich von einem Zaun, an der Einfahrt sind Wachposten. Man wird kontrolliert, wenn man hinein und hinaus will.

Wie sieht ein typischer Wochentag da bei dir aus?

Meine Mutter bringt mich mit dem Auto zur Schule. Dauert so 7 Minuten, die Schule ist nur rund 2 Kilometer entfernt. Mit dem Rad ist es zu gefährlich. Der Straßenverkehr ist sehr dicht. Die Autofahrer fahren ganz verrückt.

Was hat dich hierhergeführt, warum nach Deutschland?

Ich wollte schon immer an einem Austausch teilnehmen. In Brasilien habe ich deutsche Freunde, die haben mein Interesse an Deutschland geweckt. Und mein Bruder war auch schon Austauschschüler in Bremerhaven und würde gerne noch einmal nach Deutschland, um dort zu studieren.

Durch den Rotary Club habe ich dann die Gelegenheit bekommen, an einem Austausch nach Deutschland teilzunehmen.

Was fällt dir auf, wenn du Brasilien und Deutschland vergleichst? Land, Leute, Lebensstil…?

Die Leute in Brasilien und Deutschland sind sehr verschieden. Es ist sehr einfach in Brasilien, Leute kennenzulernen, in Kontakt zu kommen. Aber die Dinge beginnen sehr schnell und enden sehr schnell. In Deutschland sind die Menschen verschlossener, es ist schwieriger, in Kontakt zu kommen. Aber wenn das dann gelungen ist, bleiben sie einem eher erhalten.

Eine weitere Sache: Man hat hier mehr Möglichkeiten, mehr Freiheiten. In Brasilien gibt es sehr viel Gewalt. Ich kann dort nicht mit den öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, ich kann abends nicht nach Einbruch der Dunkelheit auf der Straße sein.

Du besuchst nun die Albert-Schweitzer-Schule. Zu welcher Schule gehst du in Brasilien? Wie groß? Wie muss man sich die vorstellen? Was ist dir beim Vergleich der deutschen ASS mit deiner brasilianischen Schule aufgefallen?

Ich gehe in Salvador zur Schule Colégio Sartre. Sie ist sehr groß, es gibt zwei Gebäude. Ich gehe in das Gebäude, wo die Klassen 9 bis 12 lernen. Bei uns gibt es zum Teil andere Fächer. Wir haben nicht Kunst, Religion oder Werte und Normen, auch nicht Musik oder eine zweite Fremdsprache. Dafür haben wir Literatur, Schreiben, Mathe ist aufgeteilt auf verschiedene Bereiche. Als Sprachen haben wir natürlich die Landessprache Portugiesisch.

Und als Fremdsprache hast du offensichtlich Englisch gewählt, das sprichst du ja ziemlich gut.

Richtig, Englisch. Man kann auch Spanisch wählen, aber das ist teurer.

Wenn du sagst ‚teurer‘, dann heißt das also, dass der Schulbesuch nicht kostenlos ist.

Stimmt. Meine Schule ist eine private Schule. Der Schulbesuch ist sehr teuer. Aber die öffentlichen Schulen sind nicht so gut und es ist recht gefährlich (gemeint ist eine z.T.  problematische Schülerschaft, Anm. d. Redaktion).

Du hast nun Unterrichtserfahrung an der ASS gesammelt. Was hast du beobachtet?

Die mündliche Beteiligung zählt hier zur Note, in Brasilien nicht.Und hier an der ASS gibt es mehr Gruppenarbeit und Referate, nicht so an meiner Schule in Salvador.

Und bei den Lehrern und den Schüler? Was fällt auf?

Die Schüler an der Albert-Schweitzer-Schule sind gegenüber den Lehrern viel respektvoller. Und die Lehrer hier sind nicht so streng und kümmern sich viel intensiver um die Schüler. An der Sartre-Schule bestehen die Klassen allerdings auch oft aus 45 Schülern.

Schüler in Brasilien reden ihre Lehrer mit dem Vornamen an oder sagen einfach ‚Lehrer‘. Das ist so üblich.

Und meine Klassenkameraden hier an der ASS haben mir sehr viel geholfen. Sie sind verschlossener als die in Brasilien, aber total freundlich.

Nun bist du in einer Gastfamilie untergebracht. Erzähl doch einmal etwas über dein Leben als ‚Familienmitglied‘ in Deutschland.

Ich wohne jetzt bereits in meiner zweiten Gastfamilie. Beim Rotary-Austauschprogramm kommt man in mehreren Familien unter. Meine erste Familie war total lieb, warm und freundlich. Sie waren in der Vergangenheit in Neuseeland und haben viel auf Englisch mit mir gesprochen. Nun bin ich in meiner zweiten Gastfamilie. Es ist spannend, neue Leute kennenzulernen. Hier habe ich nun zwei Gastgeschwister. In der Familie sprechen wir deutsch. Zur Schule komme ich so, wie es in Brasilien nicht möglich ist. Bei der ersten Familie habe ich den Bus genommen, nun wohne ich in Holtorf und laufe zur Schule.

Gab es eine große Umstellung vom brasilianischen Alltagsleben zu einem Leben in einer deutschen Gastfamilie?

Das Essen ist hier ganz anders. Es gibt so viel Brot. Und Kartoffeln. Warmes Essen habe ich hier abends gehabt. In Brasilien ist das Mittagessen die Hauptmahlzeit. Reis und Bohnen als Bestandteile der Mahlzeit sind sehr weit verbreitet.

Was gefällt dir an Deutschland besonders?

Ich fühle mich hier sehr sicher. Und es liegt direkt in der Mitte Europas, man ist schnell in anderen Ländern. Brasilien dagegen ist so riesig, da geht das kaum.

Mit Nienburg hast du nun einen neuen Wohnort, der nur etwa ein Hundertstel so viele Einwohner hat wie Salvador. Wie gefällt dir das Leben hier?

Nun, Nienburg liegt ja nahe großer Städte. Ich fahre oft mit der Bahn nach Hannover und treffe dort Freunde. Nienburg selbst ist total hübsch. Und obwohl es klein ist, gibt es hier alles. In brasilianischen Kleinstädten ist das anders, da findet man wenig.

Wie gut kommst du mit der deutschen Sprache zurecht? Hast du neue bzw. faszinierende Lieblingswörter oder Ausdrücke aufgeschnappt?

Als ich hierherkam, konnte ich überhaupt kein Deutsch. Mir fällt es sehr schwer, deutsch zu sprechen, denn ich habe immer Angst, dass ich Fehler mache. Mein Lieblingswort ist eindeutig „Doch!“. Einen Ausdruck mit genau dieser Bedeutung gibt es im Portugiesischen nicht.

Welches Deutschlandbild hat man denn in Brasilien? Welche Vorstellungen von Deutschland hattest du vor deiner Reise?

Ich hatte schon die Erwartung, dass die Deutschen verschlossener sind. Deutschland hat das Image, dass es hier einen hohen Lebensstandard gibt. Und dass alles sehr organisiert ist.

Kulturelle Unterschiede halten bisweilen so manche Fettnäpfchen vor. Bist du schon in Fettnäpfchen getreten?

Ja, bin ich wirklich. Am Anfang habe ich einmal im Gespräch mit Mitschülern über den Lehrer gesprochen und dabei nur seinen Vornamen verwendet. Und da haben mir die Mitschülerinnen gesagt: „Nein, Helena, das geht nicht. Das macht man hier nicht.“

Zum Abschluss noch eine Frage, auch wenn sie etwas verfrüht ist und du ja noch ein halbes Jahr hier bist. Welche Mitbringsel möchtest du gerne aus Deutschland nach Brasilien mitnehmen?

Als Mitbringsel würde ich gerne tonnenweise Schokolade mitnehmen, die ist in Brasilien nämlich ungemein teuer. Sonst aber: Unbedingt mitnehmen möchte ich die ganzen Erinnerungen. Meine Hoffnung mit diesem Austausch ist aber auch, ganz klar, gereift nach Hause zurückzukehren.

Vh

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