Die Geschichte in Erinnerung halten, damit sie nie vergessen wird

Robin Biermann und Tobias Jentsch

Robin Biermann und Tobias Jentsch (beide Klasse 10d) produzieren Filmdokumentation’Elisabeth Weinberg und jüdisches Leben in der NS-Zeit in Nienburg’/Ein Interview

Kürzlich machten zwei unserer Zehntklässler Schlagzeilen. Der Grund war eine Filmdokumentation, die das Leben Elisabeth Weinbergs und Spuren jüdischen Lebens in Nienburg zur Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnet. Anlass war der 80. Jahrestag der Deportationen in Konzentrationslager im sogenannten Dritten Reich. Ein Gespräch über Schule und Geschichtsunterricht, über damals und heute, über Gedenkarbeit, den Blick auf die Zukunft und den Blick zurück.

Hallo. Eure Gesichter sind sicherlich vielen hier an der Albert-Schweitzer-Schule vertraut, und durch die Berichterstattung in der >Harke< sind manche schon auf Eure Dokumentation aufmerksam geworden. Vielleicht könnt Ihr dennoch einige Worte zu Eurer Person sagen und Euch so unserer Schulgemeinschaft vorstellen.

Wir sind Tobias Jentsch und Robin Biermann und gehen gemeinsam in die Klasse 10D, einige kennen uns vielleicht noch von dem Kurzfilmprojekt „CrossVision“. Unter dem Namen „evenTec“ übernehmen wir schon länger zu zweit die technische Umsetzung von kleinen bis mittelgroßen Veranstaltungen und Videoproduktionen.

Kürzlich erschien in der >Harke< ein ganzseitiger Artikel über ein besonderes Projekt, das ihr völlig eigenständig angegangen seid. Könnt Ihr einmal sagen, um welches Projekt es sich dabei handelt? Und: Wie seid Ihr auf das Projekt gekommen?

Es handelt sich dabei um die filmische Doku „Elisabeth Weinberg und jüdisches Leben in Nienburg zur NS-Zeit“, die seit dem 12.03. auf YouTube verfügbar ist. Diese zeigt die Nienburger Geschichte während der Zeit der Nationalsozialisten anhand des Beispiels der Nienburger Jüdin Elisabeth Weinberg. Den Anstoß zu dem Projekt gab uns Frau Leiste, welche durch frühere Filmproduktionen auf uns aufmerksam geworden ist. Ursprünglich wollte sie ein kleines Projekt für eine schulische Teilnahme am „Elisabeth Weinberg Preis“. Aus der Idee ist nun eigenständig unsere Doku entstanden.

Das Projekt ist eine Filmdokumentation. Erzählt doch einmal, was das genau nach sich zieht. Wie habt Ihr gearbeitet? Was muss man da beachten und machen? Was braucht man dafür?

Bevor man anfangen kann, benötigt man natürlich erstmal eine umfangreiche Planung: Wann und wo wird gedreht? Wer ist beteiligt? Wie wird der Film strukturiert? Müssen wir Gäste für Interviews einladen? Auch sollte man vorher viel recherchieren, um das Thema des Films zu beherrschen. Unsere Anlaufstelle war hier das Stadtarchiv, wo wir viele Originaldokumente einsehen konnten. Und dann benötigt man selbstverständlich das nötige Equipment: Kamera, Mikrofone, Licht, Stative und am besten noch ein Gimbal für eine ruhige Kameraführung.

Für die Dokumentation habt ihr etwa 60 Stunden gebraucht. Könnt Ihr mal erzählen, wie man sich das vorstellen muss?

Ca. 15 Stunden haben wir mit der Planung und Recherche verbracht. In dieser Zeit waren wir häufig in Freistunden im Stadtarchiv. Der tatsächliche Dreh nahm ca. 12 Stunden in Anspruch. Aufgeteilt war dieser auf zwei Tage, an denen wir Archiv- und Stadtaufnahmen sowie die zahlreichen Interviews gefilmt haben. Der Schnitt und die Nachbearbeitung nahmen mit etwa 30 Stunden den größten Teil der Produktionszeit in Anspruch. Natürlich ist auch die Zeit, welche wir mit organisatorischen und designtechnischen Dingen verbracht haben, nicht zu vernachlässigen 😉 Schließlich braucht eine Doku auch eine Beschreibung und ein Thumbnail.

Das Fach Geschichte, so hört man, zählt eigentlich nicht zu Euren Steckenpferden, wenn es um das Lernen an der Schule geht. Robin, von Dir stammt sogar die Aussage: ,,Ich war der Meinung: Bei dem, was gelernt wird, sollte doch immer die Zukunft in den Blick genommen werden.“ Ihr seid ja über die Klasse 10d hinaus auch bekannt dafür, dass Ihr Euch gerne mit modernster Filmtechnik in der Freizeit beschäftigt, wie Ihr ja eben schon betont habt. Das sieht doch eigentlich nach Blick in die Zukunft aus. Und dennoch habt Ihr eine andere Perspektive eingenommen. Den Blick zurück auf jüdisches Leben und das Schicksal eines jüdischen Mädchens während der NS-Zeit. Wie erklärt Ihr diesen scheinbaren Widerspruch?

Selbstverständlich findet man hier einen Widerspruch. Doch dieser Widerspruch erfüllt einen Zweck: Die Verbindung von einem modernen Medium mit der Geschichte sorgt dafür, dass diese erhalten bleibt und bietet das perfekte Mittel, um diese an die jüngere Generation zu transportieren. Auch uns hat die Recherche gezeigt: Das Geschehene darf niemals vergessen werden, denn es zeigt uns, wann auch heutzutage Grenzen überschritten werden und wo wir eingreifen müssen, falls diktatorische Züge wieder erscheinen. Und die Aktionen Putins machen die Geschichte aktueller denn je.

Ihr habt Euch auf die Spuren jüdischen Lebens begeben. Erzählt doch einmal, wie Ihr das gemacht habt. Wie seid Ihr an Informationen gekommen, wie an Eure Gesprächspartner, was waren besondere Herausforderungen?

Die Informationen haben wir uns überwiegend durch Online-Recherche angeeignet, aber auch das Archiv hat uns tolle Einblicke in originale Aktenordner und Bilder bieten können. Bei der Planung sind wir natürlich auf einige spannende Personen gestoßen, die wir im Film einbringen wollten, wie z.B. den Bürgermeister Jan Wendorf, die Archivarin Patricia Berger und den Leiter des „Arbeitskreis Gedenken“, Thomas Gatter, der das Tagebuch Elisabeth Weinbergs veröffentlichte. Wir haben einfach via Mail-Kontakt zu den Personen aufgebaut und Interviewtermine vereinbart. Alles lief relativ reibungslos.

Habt Ihr Unterstützung bekommen? Vielleicht historische Hinweise durch Geschichtslehrer? Oder Unterstützung aus Euren Familien, die vielleicht aus der Familiengeschichte Kenntnisse zu historischen Nienburger Geschehnissen, Orten etc. beisteuern konnten?

Viel Unterstützung haben wir durch Patricia Berger, die Archivarin des Stadtarchivs, bekommen. Durch ihren Kontakt zu Elisabeths Nichten und ihre tollen geschichtlichen Kenntnisse half sie uns sehr bei der Beschaffung von Informationen. Auch konnte sie uns einige spannende Orte nahebringen.

Wie seid Ihr auf das Mädchen Elisabeth Weinberg gekommen, wieso habt Ihr sie in den Mittelpunkt Eurer Doku gestellt?

Frau Leiste brachte uns auf Elisabeth Weinberg. Wir haben uns mit ihr beschäftigt und dabei hat sich herausgestellt, dass sich wahrscheinlich viele mit ihr identifizieren können. Sie war schließlich zu dieser Zeit ein junges Mädchen, welche ein Nienburger Gymnasium besuchte, ihre Freundin traf, gerne Fahrrad fuhr, Radio hörte und gern ins Kino ging. Und wir glauben, dass dieser persönliche Bezug ein wichtiger Schlüssel ist, um die jüngere Generation anzusprechen.

Was hat bei Euch im Rahmen Eurer Recherche den tiefsten Eindruck hinterlassen? Warum?

Die originalen Dokumente im Archiv zu sehen, war auf jeden Fall das eindrucksvollste Erlebnis. Die Namen auf der Liste der zu deportierenden Juden, Adressbücher mit einem eingetragenen „J“ und die beschönigten Schreibweisen (z.B. „Evakuierung“, statt „Deportation“) gehen einem nicht mehr aus dem Kopf. Man fühlt sich der Geschichte extrem nah.

Mit Eurer Dokumentation verfolgt Ihr auch ein, ja, man kann sagen: pädagogisches Ziel. Was wünscht Ihr Euch hier?

Wir wünschen uns, dass sich junge Leute mit der Geschichte auseinandersetzen und dazu beitragen, dass die Geschehene nie vergessen wird, sondern die Erinnerung und das Gedenken weitergeht, wenn die letzten Zeitzeugen von uns gehen. Darüber hinaus wünschen wir uns, dass gegen jegliche Form von Antisemitismus angegangen wird.

Im Film ist eine Szene, wie ich finde, sehr eindrücklich. Ihr zeigt den Ort in Nienburg, an dem einmal eine jüdische Synagoge stand, die während der Progrome zerstört wurde. Täglich kommen zahllose Menschen an diesem Ort vorbei, der einmal ein Zentrum jüdischen Lebens war. Wahrscheinlich ist den meisten das nicht bewusst. Weil man nichts mehr sieht.

Welchen Sinn haben hier Denkmäler, Stolpersteine, Archive oder auch Dokumentationen wie die Eure?

Sie tragen ganz aktiv dazu bei, die Spuren aufrecht zu erhalten und sie nicht verschwinden zu lassen, denn solange die Spuren erhalten bleiben, lässt sich ein persönlicher, aktueller Bezug zu den Personen, Gebäuden und Geschehnissen aufbauen. Dieser ist fundamental dafür, diese Zeiten in Erinnerung zu halten.

Eure Dokumentation ermöglicht einen wichtigen Einblick in ein dunkles Kapitel deutscher – und hier: Nienburger – Geschichte. Wie geht es jetzt weiter? Der Film ist auf youtube.com zu sehen. Aber er wird auch auf andere Weise öffentlich gezeigt. Und sogar vor einer Jury?

Erstmal haben wir unser Hauptziel, die Geschichte weiterzugeben und zu informieren, erreicht und die Veröffentlichung auf YouTube ging mit sehr positiver Resonanz einher. Darüber hinaus haben wir uns mit der Doku beim Elisabeth Weinberg Preis beworben, der junge Leute, die sich aktiv und nachhaltig für ein gleichberechtigtes Zusammenleben und gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung einsetzen, honoriert. Die Entscheidung der Jury wird am Mittwoch, dem 30.03., bekannt gegeben. Am darauffolgenden Donnerstag wird der Film in voller Länge bei der Eröffnung der Ausstellung „Was wird wohl werden?“ im Rathaus gezeigt.

Robin, Tobias – vielen Dank für das Interview. Für die Preisvergabe wünschen wir Euch alles Gute – und für Eure Dokumentation ein möglichst großes Publikum, ob auf Youtube oder bei anderen öffentlichen Präsentationen.

Das Interview führte Thomas Volkhausen

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