Nervenkitzel auf der Felsnadel
Die Jugendbuchautorin Antje Wagner zu Gast an der Albert-Schweitzer-Schule
„Sie musste fünfmal zuschlagen, bevor das Glas splitterte. […] Sie schloss die Hände fester um den Griff ihres Baseballschlägers, holte tief Luft und schlug erneut zu. Wieder. Wieder. Wieder.“ Endlich gelingt es Noomi, einer der Hauptcharaktere in Ella Blix‘ Mystery-Roman >Wild. Sie hören dich denken‘, die Scheibe des Juweliergeschäfts zu zertrümmern, den Alarm auszulösen – und sich von der herbeieilenden Polizei festnehmen zu lassen. Ähnlich freiwillig, gleichwohl mit entschieden höherem Genuss, ließen sich die Schülerinnen und Schüler des 8. Jahrgangs der Albert-Schweitzer-Schule von der Vortragskunst Antje Wagners alias Ella Blix‘ gefangen nehmen. Diese war nämlich am Donnerstag, dem 9. Februar, im Rahmen einer Autorenlesung zu Gast in der Albert-Schweitzer-Schule, um dort aus gleich mehreren Romanen – „Unland“, „Vakuum“ und eben „Wild. Sie hören dich denken“ vorzulesen. Aber was heißt hier ‚vorzulesen‘? Die im Jahre 2012 von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Autoren aufgenommene Schriftstellerin, 2019 für ihren Roman „Hyde“ mit dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar ausgezeichnet, trug nicht einfach vor. Vielmehr machte sie die Lesung zu einem Ereignis, das sich durch das spannungsvolle Romangeschehen, die bemerkenswert direkte und einnehmende Publikumsansprache, stets auflockernde, aber nie wahllos erzählte Anekdoten, eine dramaturgisch effektvolle Erläuterung der Zusammenhänge und Hintergründe exemplarisch ausgewählter Textpassagen sowie eine bis hin zu einem buchstäblichen Cliffhanger fein strukturierte Vortragsleistung auszeichnete. Doch der Reihe nach, auch wenn es jetzt „WILD“ wird.
Vier Berliner Jugendliche – Noomi, Flix, Olympe und Ryan – verrichten in einem Wald inmitten der Sächsischen Schweiz für von ihnen begangene kriminelle Taten Sozialstunden, um nicht ins Gefängnis zu müssen. Steht zunächst das Bemühen der Jugendlichen im Vordergrund, sich im Straflager dem vorgegebenen strikten Tagesrhythmus anzupassen und alle Regeln einzuhalten, drängen plötzlich immer neue mysteriöse Ereignisse buchstäblich aus dem Dunkel der Waldgegend auf die Waldlichtung des Camps und zunehmend in die Köpfe der Jugendlichen. Für die Atmosphäre innerhalb der Gruppe ist dies nicht besonders zuträglich, hütet doch jeder der Jugendlichen das Geheimnis um den wahren Grund seiner Teilnahme am ‚Feel Nature‘-Programm. Lediglich die unter Erinnerungslücken leidende Noomi erzählt, dass sie die Scheibe eines Juweliergeschäftes eingeschlagen habe, um zurück in das Camp zu kommen. Ihr Motiv: Bereits im Vorjahr war sie nach einem Schulausflug auf einer Felsnadel über einem Abgrund erwacht, ohne zu wissen, was vorher geschehen ist. Sie ahnt, dass in diesem Wald höchst merkwürdige Dinge vor sich gehen – manche der Waldtiere werden zutraulich, ein Falke wiederum attackiert die Heranwachsenden, die sich ihrerseits merkwürdig verhalten, Essgewohnheiten ändern oder sich wie Tiere verhalten. Gemeinsam kommen die vier Jugendlichen allmählich der Wahrheit auf die Spur, die sie in die Tiefen des Waldes zu einem verlassenen Wohnwagen mit einem geheimnisvollen Tagebuch führt.
Als wäre die Handlung des Romans nicht schon fesselnd genug, wählt Antje Wagner, die den Roman zusammen mit der Schriftstellerin Tania Witte unter dem Pseudonym Ella Blix verfasst hat, für die heutige Lesung die Figurenperspektive Noomis, des Charakters mit dem unheimlichsten Geheimnis. Warum lässt diese sich verhaften, um in das Straflager zu kommen? Was hat es mit ihren unheimlichen Träumen – von zuckenden Bewegungen, Schreien und ganz viel Blut – auf sich? Weshalb kann sie sich nicht an die Ereignisse erinnern, die geschahen, kurz bevor sie auf der Felsnadel über einem tiefen Abgrund inmitten der Sächsischen Schweiz aufwacht? Antje Wagner alias Ella Blix zieht die Achtklässler in den Bann der mysteriösen Geschichte. Nicht wenige Schüler hören offenen Mundes zu, als die Autorin die zuckenden Bewegungen in Noomis Traum körpersprachlich nachvollzieht, als sie geschickt durch ihre Wortwahl, in der etwa die Sonne nicht scheint, sondern „brennt“, und durch effektvolle Wiederholungen, wodurch Noomi unaufhaltsam bei einem Waldausflug hinter die Wandergruppe immer weiter zurückfällt, „und zurück“, „und zurück“, eine dichte, düstere und packende Atmosphäre schafft, die durch gezielte Stimmsenkungen und Aussparungen auf den Cliffhanger auf der Felsnadel zusteuert und nach einem Flip-Chart-Exkurs über Handlungs- und Figurenspannung sowie Psychologie die ASSler eine dunkle Wahrheit erahnen lässt. Um sie dann dort stehen zu lassen, mitten im Wald, sozusagen. Denn klar: Eine Schriftstellerin möchte ihre Romane gerne auch verkaufen, eine Auflösung bleibt den gespannten Lesern vorbehalten.
Und von diesen scheint es unter den Achtklässlern sehr viele zu geben. Das zeigt sich schon bei den interessierten Fragen, die die Schüler im Anschluss an die Lesung an die Autorin richten dürfen. Wie lange Wagner an einem Buch schreibe, lautet eine. Antwort: Zwei Jahre, im Autorenduo etwa ein Jahr, denn eine Idee allein reiche nicht aus, man müsse diese verpacken, dann bearbeiten, vergleichbar mit dem Herausmeißeln einer Figur in der Bildhauerei. Wie sie auf die Figurennamen komme? Sie bevorzuge realistische Namen, etwa aus ihrem Lebensumfeld. Ob man vom Schreiben reich werden könne? Nein, das gewiss nicht. An einem Buch für 18 Euro verdiene sie gerade 70 Cent, der Rest gehe unter anderem an den Titelbildgraphiker, den Lektor, den Korrektor, den Verlag, die Druckerei, den Buchhandelsvertreter und mindestens 40 Prozent an die Buchhandlung. Haupteinnahmequelle seien eben Lesungen wie diese. Ob sie von Anfang an Schriftstellerin habe werden wollen? Nein, in der ‚DDR‘, in der sie aufwuchs, sei man eingesperrt gewesen, es sei an der Grenze auf Flüchtlinge geschossen worden, man habe nicht reisen können – außer man sei schon über 60 gewesen (was sie nicht war) oder man habe einen Beruf ergriffen, der das Reisen ermögliche, wie Stewardess (was sie dann doch nicht wurde, da dann die Mauer fiel). So wurde sie Schriftstellerin, weil das Schreiben etwas sei, was sie „gut könne“.
Dieser Aussage würden sich die Schülerinnen und Schüler im Giebelsaal sicherlich zustimmen. Am Schluss gab es lauten Applaus und lange Schlangen, denn zahlreiche Achtklässler belagerten die Autorin, um ein Autogramm zu ergattern oder ein Buch zu erwerben.
Ein großes Dankeschön an die Autorin Antje Wagner für einen höchst unterhaltsamen Vormittag! Der Dank gilt auch Deutschlehrerin Melanie Brosch, die die Lesung organisiert hatte. Und großer Dank gebührt auch dem Friedrich-Bödecker-Kreis e.V. für Leseförderung, der die Autorenlesung ermöglicht hat.
Vh